Psychologische Begriffe: „Wohlstandsparadox“
„The best things in life are free“ lautet ein bekanntes Sprichwort. Was kümmert uns also das Kapital, das wir täglich anhäufen, umschichten, gewinnen, verlieren, vermehren, anlegen und ausgeben? Natürlich brauchen wir „genug zum Leben“. Und dieses „genug“ wird eben objektiv in Euro, Dollar oder Rubel gemessen. Wie steht es aber mit dem subjektiven „Genug“, der Lebenszufriedenheit und dem Glück, das wir uns in unserer halb sozial, halb marktwirtschaftlich orientierten Kultur scheinbar oft kaufen müssen?
Die Gretchenfrage „Macht Geld glücklich?“ wird von unseren Forschern mit einem klaren „Es kommt darauf an!“ beantwortet. Als Wirtschaftswissenschaftler Mitte des vergangenen Jahrhunderts erstmals systematisch den Zusammenhang von Einkommen und subjektivem Glücksempfinden untersuchten, stießen sie bei ihren Langzeitstudien auf einen unerwarteten Befund: Obwohl sich die Kaufkraft der Menschen innerhalb von 50 Jahren durchschnittlich verdoppelte, wurden sie NICHT glücklicher. Dem Phänomen gaben die Forscher den Namen „Wohlstandsparadox“.
Sie nahmen an, dass nicht unser absolutes Einkommen über unser Wohlbefinden entscheidet, sondern vielmehr das relative Einkommen, also die materiellen Güter, die wir in größerem oder kleinerem Umfang besitzen als relevante andere Menschen. Ein Experiment der Universität Harvard illustriert das anschaulich: Studenten sollten sich dort entscheiden, ob sie lieber in einer Welt leben wollten, in der sie 50.000$ im Jahr verdienten und alle anderen nur 25.000$ oder in einer Welt, in der sie 100.000$ verdienten, alle anderen aber 250.000$. Wie würden Sie entscheiden. Die Studenten waren sich jedenfalls relativ einig und entschieden sich für die erste Welt.
In Europa liegt die Einkommensgrenze, ab der wir nicht mehr glücklicher werden, derzeit bei 2000€ netto pro Monat. Wer lediglich 1000€ netto verdient, wählt auf der Glücklichkeitsskala druchschnittlich einen Wert von 66%. Bei 2000€ sind es bereits 79%, danach erhöht sich das Glück offensichtlich nicht mehr. Die Wirtschaftswissenschaftler folgern: Materieller Wohlstand besitzt einen abnehmenden Grenznutzen. Und sie überlassen das Feld einer neuen wissenschaftlichen Disziplin: Der Empirischen Glücksforschung.
Diese ist nun in der Lage, das Wohlstandsparadox weitgehend aufzuklären: Jeder Mensch besitzt zunächst einmal einen „Sollwert“ seines individuellen Glücksempfindens und eine gewisse individuelle Bandbreite, innerhalb derer sich der momentane Glückswert befindet. Sollwert und Bandbreite sind weitgehend neurophysiologisch und damit genetisch festgelegt. Herr Müller hat z.B. einen Sollwert von 75% und befindet sich (vorausgesetzt es fanden keine wirklich gravierenden Lebensereignisse statt, wie Krieg, schwere Krankheit oder Verlust einer geliebten Person) zum Zeitpunkt X irgendwo in seiner persönlichen Bandbreite, zwischen 65% und 85%. Es ist also möglich, dass sich Herr Müller dauerhaft auf durchschnittlich 85% des maximalen Wohlbefindens aufhält, er wird aber niemals dauerhaft 100% erreichen, denn darauf ist sein Gehirn nicht ausgelegt. Unterstützt wird diese „Solllwert-Theorie“ durch Ergebnisse aus der Zwillingsforschung.
Forscher wie der Linzer Professor Dr. Brandstätter und der Harvard-Psychologe Tal Ben-Shahar setzen sich seit Jahren dafür ein, den Wohlstand eines Landes nicht länger mit Bruttoinlandsprodukt oder Pro-Kopf-Einkommen anzugeben. Statt dessen sei es sinnvoller, einen Befindlichkeitsindex zu verwenden, der Glück, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit der Mitglieder zuverlässig zusammenfasst. Ben-Shahar spricht im Zusammenhang mit Glück von der „grundlegenden Währung“ – alle anderen materiellen Bemessungsgrundlagen seien zweitrangig und nur Mittel zum Glück.
Zudem sind sich Wirtschaftswissenschaftler und Glücksforscher einig: Menschen gewöhnen sich sehr schnell an höhere materiellen Standards. Lottogewinner sind beispielsweise nach circa einem Jahr wieder so (un-)glücklich wie zuvor. Dieses Phänomen wird als „hedonistische Tretmühle“ bezeichnet und impliziert, dass wir immer mehr brauchen, um unser Glücksniveau zu halten. Nach dem Luxusauto brauchen wir sozusagen die Luxusyacht, um uns noch einmal einen ähnlichen Glücksschub zu verpassen wie beim Autokauf.
Fazit: Reich werden macht nicht glücklich. Reicher werden aber sehr wohl. Zumindest kurzfristig.
gepostet i.A. von Dr. Stephan Lermer
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